29.04.2022
Eine Superabfahrt
Für 8:47 habe ich im Vorfeld ein Ticket zum Oberalppass gekauft, brauche aber noch die zugehörige Fahrradkarte. Velobillette werden am Automaten zwar im Menü angezeigt, anschließend kommt man aber zu den Tickets für die Menschen. Erst ein Anruf bei der Helpline klärt auf: Fahrräder brauchen eine Kinderfahrkarte (fahren also zum halben Preis). Macht dann CHF 10,80, etwas mehr als die Fahrradkarte von München hierher (EUR 9,—), dabei hätte die sogar für heute mitgereicht, wenn sie bis Oberalppass und nicht nur bis Tavanasa ausgestellt worden wäre. Ich bin ja inzwischen im zehnten Lehrjahr zum Möchtegernschwaben, aber es ist offenbar immer noch ein langer Weg zur Gesellenprüfung…
Bis Disentis begleitet mich der gleiche wirklich nette Schaffner, der sich wieder entschuldigt, dass er mir nicht in den Zug geholfen habe, weil er mich nicht gesehen habe, und verzichtet heute sogar auf die Überprüfung des Personalausweises. Beim Blick auf sein Namensschild muss ich beinahe breit losschmunzeln: sein Name ist wirklich Programm (kann hier aber aus Datenschutzgründen natürlich nicht genannt werden). Ein- und Ausstieg sind bei der Matterhorn-Gotthard-Bahn (ab Disentis) ein Problem, weil draußen zwar ein Fahrrademblem angebracht ist und drinnen super Aufhängungen vorhanden sind, aber die Türen sind deutlich schmaler als ein Fahrradlenker und drinnen ist es so eng, dass ich an das Ende des futuristischen Fahrradwegs am Gardasee denken muss. Ansonsten wie immer alles bestens.
Eigentlich hätte heute der erste Tag nach der Wintersperre des Oberalppasses sein sollen („sofern keine größeren Neuschneemengen fallen“), deshalb hatte ich Unterkunft und Tickets frühzeitig so gebucht und dann gehofft, dass kein Neuschnee mehr kommt. Allerdings war offensichtlich so wenig Neuschnee gefallen, dass schon eine Woche früher geöffnet werden konnte - eine Neubuchung machte aber natürlich keinen Sinn (sonst wäre ich sicher in‘s fünfte Lehrjahr zurückgestuft worden).
Für eine Wanderung zum Tomasee mit Halbschuhen liegt aber im recht steilen Hang erwartungsgemäß noch zu viel Schnee, das muss ich also mal gelegentlich nachholen. Aber jetzt geht‘s endlich los: die Straße ist frei und trocken, es sind kaum Autos unterwegs, es ist windstill und deshalb insgesamt mucksmäuschenstill (bis auf den Fahrtwind und das Flattern der Jacken). An ein Laufenlassen ist bei den engen Kehren natürlich nicht zu denken, aber das Uffeci da construcziun bassa (klar, das ist das - hochalpine - Tiefbauamt Rätoromaniens) hat ganze Arbeit geleistet, es fährt sich richtig gut!
Bis Disentis kann ich es bis auf zwei kurze Ausnahmen einfach laufen lassen. Ich werfe einen Blick in die reiche Abteikirche (St. Martin) und gönne mir ein Stück Rüeblitorte im angeschlossenen Café mit toller Aussicht von der Terrasse. Zudem lerne ich noch, dass der Kantonsname Graubünden von „Grauer Bund“ kommt, einer von drei Bünden aus jeweils mehreren Gemeinden mit eigener Gerichtsbarkeit, die im späten 14. Jahrhundert gegründet wurden, um ständige Kleinkriege in der Region beizulegen.
Dahinter geht es abseits der heute beinahe unbefahrenen Landstraße über wunderbar holprige Wege mitunter steil auf und ab durch eine herrliche Wald- und Wiesenlandschaft, aber ohne Kontakt zum Rhein und mit großem Zeit- und Lustverlust gegenüber der Straße (vom idealen Radweg ganz zu schweigen), aber bevor ich mich aufrege, beschließe ich, mich im späteren Verlauf in Strasbourg mal nach den Jobchancen bei der Europäischen Kommission für die Vergabe von Fernradwanderwegsiegeln zu erkundigen. Hier bin ich zwar in der Schweiz, aber ich glaube, meine Expertise zu dem Thema könnte überregional gebraucht werden.
Dabei könnte ich auch gleich meine Ideen zur besseren Verteilung von Höhenmetern auf die Flusslänge einbringen: nach gerade mal 40 km, also gut 3% der Strecke hat man hier schon knapp 61% des Höhenunterschieds verprasst. Immerhin übertreffen die 1.230m Abfahrt (netto) sogar die Abfahrt mit Thomas vom Timmelsjoch nach Sölden anno 1997, also im fortgeschrittenen Alter dann doch noch ein persönlicher Rekord...
Am Nachmittag bin ich wieder in Tavanasa und videofoniere mit meinem Patensohn über seine Jahresarbeit und mit den Frechener Freunden über Gott und die Welt.
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